Interview mit Allard Everts in Bloemendaal
Geschichte des Jod-Schwefelsbads
Das Jod-Schwefelbad Bad Wiessee hat eine lange Geschichte. Bis heute sprudeln hier Deutschlands stärkste und heilkräftigste Jod-Schwefelquellen.
Entdeckt hat sie 1909 der niederländische Bergbauingenieur Adriaan Stoop, der seit 1904 an den Ufern des Tegernsees nach Erdöl bohrte. Das Heilwasser und die Investitionen Stoops machten aus dem Bauerndorf Wiessee 1922 Bad Wiessee, einen international berühmten und florierenden Kurort. 1922 wurde Adriaan Stoop Ehrenbürger von Bad Wiessee.
2011 wurde das Jod-Schwefelbad in Bad Wiessee, das über 100 Jahre im Besitz von Niederländern war, an die Gemeinde Bad Wiessee verkauft.
In diesem Interview spricht Ingvild Richardsen mit einem der früheren Geschäftsführer, mit dem Bergbauingenieur, Unternehmensberater und Autor Allard Everts, über das niederländische Jod-Schwefelbad, Erinnerungskultur und das deutsch-holländische Verhältnis.
Ingvild Richardsen: Allard. Du bist ein Urenkel von Adriaan Stoop, einer der Pioniere der Erdölindustrie in Niederländisch-Indonesien und der Begründer und Eigentümer des Jod-Schwefelbades in Bad Wiessee am Tegernsee. Auch du hast eine Ausbildung als Bergbauingenieur. 15 Jahre lang warst Du als Bergbauingenieur aktiv, bevor du international als Unternehmensberater tätig warst. Zusammen mit Herr Jansens van Gellicum hast Du auch als Mitglied des Beirats über 30 Jahre die Jod-Schwefelbad Wiessee GmbH geführt bis zum Verkauf an der Gemeinde Bad Wiessee im Jahr 2011. Und so kannst du mir sicher einige Fragen zu Adriaan Stoop, zur Geschichte des Jod-Schwefelbades und zum deutsch-holländischen Verhältnis beantworten.
Als Adriaan Stoop am 7. September 1935, auf seinem Landsitz De Rijp in Bloemendaal starb, war er in den Niederlanden eine nationale Berühmtheit. Seinem Tod wurde in allen Zeitungen des Landes viel Aufmerksamkeit geschenkt. Die Tageszeitungen Nieuwe Rotterdamse Courant und Algemeen Handelsblad brachten den Tod des „ehemaligen Vorstands der Koninklijke [dt.: Königlichen Petroleumgesellschaft]“ groß auf der Titelseite. In Haarlem und Umgebung wurde Stoop verabschiedet als „ein Mann von großer Wichtigkeit für unser Land und für Niederländisch-Indien, ein Freund seiner Heimatgemeinde, die er in vielerlei Hinsicht so reichlich bedacht hat, eine Stütze für viele, die ihn um Hilfe baten“.
Adriaan Stoop hat eine ungeheure Lebensleistung hingelegt. Der Pionier der Erdölindustrie in Indonesien hat nicht nur aus dem Bauerndorf Wiessee ein Bad von internationaler Grösse gemacht. Er hat auch in den Niederlanden viel Gutes bewirkt, sich sozial engagiert. So hat er in Bloemendaal zwei Schulen und ein Schwimmbad gegründet. Wieso hat er das damals getan? Was für Ideen hat er mit diesen Schule und dem Schwimmbad verknüpft? Das Schwimmbad gibt es nicht mehr, in dem Gebäude befinden sich heute Appartements, die Schule allerdings schon.
Allard Everts: Adriaan Stoops Schwiegervater war Direktor der HBS (Höhere Bürger Schule) in Dordrecht und seine Schwiegereltern stammten aus einer Tradition der Erziehungkultur. Als die Kinder das Schulalter erreichten, beschlossen Stoop und seine Frau Miente van Deventer, eine Grundschule zu gründen (1902), dait ihre Kinder nicht nach Haarlem gehen mussten. Die BSV (Bloemendaalse School Vereeniging) ist eine Privatschule (in den Niederlanden gibt es eine große Freiheit, eine Schule nach eigener Philosophie zu gründen). Jahre später ergriffen er und seine Frau dann die Initiative, um das Kennemer Lyceum (1920) zu gründen. Wiederum, weil die Kinder sonst auf die Mittelschule nach Haarlem hätten gehen müssen. Im frühen 19, Jahrhundert gab es ein großes Bewusstsein dafür, dass eine Badeanstalt gut für die öffentliche Gesundheit ist. So kam es, dass Stoop das Stoops Bad 1915 gründete.
Ingvild Richardsen: Die niederländische Historikerin Henriette van Voorst Vader, eine Urenkelin Adriaan Stoops, hat 1995 eine Biographie über Adriaan Stoop geschrieben. Im November 2020 ist sie leider verstorben. Sie sprach perfekt Deutsch und perfekt bayerisch. In ihre Jugend hat sie in Bad Wiessee gelebt, weil ihr Vater Prokurist des das Jod-Schwefelbades war. Van Voorst Vaders Biographie über Adriaan Stoop trägt den Titel: Leven und Laten Leven. Auf Deutsch: Leben und Leben lassen.
Warum hat sie diesen Titel für ihre Biographie gewählt? Immer wenn ich in Holland bin, begegnet mir dieser Ausspruch in den verschiedenen Kontexten. War das Adriaan Stoops Lebensmotto? Ist das typisch holländisch?
Allard Everts: In der Tat war dies das Motto des Stoop-Paares: „Man muss leben und leben lassen“. Einigen zufolge stammt der Zauber aus Deutschland: leben und leben lassen, dass zuerst von Wieland (1733-1813) und dann von Lessing, Möser und Goethe verwendet wurde. In den Niederlanden kommt es aber auch im 17. Jahrhundert vor. Es ist also kein typisch niederländisches Sprichwort und spiegelt vielmehr eine bestimmte Lebensphilosophie wider. Welches übrigens auch die meine ist. Die Suche nach Win-Win, die im Zentrum meiner Dilemma-Philosophie seht, ist ein Ausdruck davon.
Ingvild Richardsen: Über 100 Jahre war das Jod-Schwefelbad in Bad Wiessee in den Händen der Familie und den Nachkommen von Adriaan Stoop. Ein Jahrhundert lang gab es ein kleines niederländisches Imperium in Deutschland, in Bayern. 2011 habt ihr das Jod-Schwefelbad an die Gemeinde Wiessee verkauft? Wie kam es zu diesem Entschluss?
Allard Everts: Das Gesundheitsreformgesetz von 1989 zielte darauf ab, die Subventionen für Heilmittel stark einzuschränken. Das Ergebnis war, dass Kurgäste ihre 3-wöchige Kur fortan größtenteils selbst bezahlen mussten. Dies führte natürlich zu einem enormen Rückgang der Gästezahl und innerhalb von zwei Jahren zu einem sehr verlustbringenden Betrieb. Kürzere Kuren („Schwefelen Sie Mit“) und anderes Marketing halfen nicht den Umsatzverlust auszugleichen. Die Hoteliers und die Gemeinde unterstützten das Bad einige Jahre, aber die Verluste erwiesen sich als nicht erträglich und so beschlossen wir die eigene Führung des Betriebes einzustellen. Das war sehr teuer, wurde aber durch den Verkauf des Hauses Jungbrunnen ermöglicht. Ab 2002 war die Gemeinde bereit, das Bad in viel kleinerer Form weiter zu exploitieren. Die Verpachtung führte zwar immer noch zu Verlusten, aber die waren für eine beschränkte Zeit zu ertragen. Ab 2001 haben wir versucht, das Bad zu verkaufen und dass gelang dann endlich in 2011. Glücklicherweise wurde die Gemeinde der Käufer. Diese hatte immer unsere Präferenz. Also waren beide Parteien glücklich.
Ingvild Richardsen: 2018/2019 ist das alte niederländische Jod-Schwefelbad - mit Ausnahme der von Bruno Biehler erbauten Wandelhalle -, komplett abgerissen worden. Nun steht in Bad Wiessee, neben dem früheren Badeareal, ein neues Jod-Schwefelbad, das von dem Südtiroler Architekten Mattheo Thun 2019 /2020 erbaut wurde. Dort wo das alte Jod-Schwefelbad stand, klafft jetzt eine grosse Lücke, sieht man jetzt einen riesiger Bauplatz, Erhalten sind nur noch die Namen dreier Straßen, die auf die früheren Besitzer des Jod-Schwefelbades hinweisen: Die Adrian-Stoop-Straße, die Driessenstraße und die Wilhelminastraße. Und auch die Wilhelmina-Quelle und die Adrianus-Quelle erinnern noch an die Niederländer. War das nicht sehr schmerzlich zu sehen, wie die Lebensleistung von Adriaan Stoop und das Eigentum eurer Familie dem Erdboden gleichgemacht wurde?
Allard Everts: Nein, 100 Jahre sind eine wunderbare Zeit. Die letzten 10 Jahre waren besorgniserregend wegen vergeblicher Versuche, das Bad zu verkaufen. Aber als wir 2011 endlich Erfolg hatten und das Bad sdann ogar von der Gemeinde gekauft wurde, war es ein würdiger Abschluss dieser besonderen Ära. 2015 feierten wir dies mit einer Wiedervereinigung von mehr als 100 Nachkommen des Paares Stoop - Van Deventer. Es gab eine Suche entlang Pavillons die jeder Familienlinie und den wichtigsten Themen in Stoops Leben gewidmet waren. Auf diese Weise war es möglich, auch den jüngsten Mitgliedern des Familien-Stammes ein gewisses historisches Bewusstsein zu vermitteln. Aber ohne ein Einfamilienhaus in Bad Wiessee ist es für die Familie natürlich weniger einfach, die wertvolle Verbindung aufrechtzuerhalten.
Ingvild Richardsen: Wie war das als Niederländer in Bayern am Tegernsee? Das ist ja das totale Kontrastprogramm zu dem mit Windmühlen und tausenden Kanälen durchzogenen flachen Niederlanden, dem Wind und nahem Meer.
Allard Everts: Für uns sind die Berge natürlich wie ein Urlaub. Eine völlig andere Umgebung als das was man kennt. Als Kind habe ich mich immer nach den Bergen gesehnt, und das tue ich immer noch. Wandern, Bergsteigen, weite Aussichten, Gewitterwolken, Schnee, Gipfelkuss, Picknick entlang eines Baches, Kaiserschmarren, Musik, Steine und Felsen. Bad Wiessee war für uns ein top Ferienort mit wunderbaren Traditionen wie Tischtenniswettbewerbe, Spiele, Lesen, 78 Touren Schallplatten, Semmeln, Sonnenbaden und die unvergesslichen Weihnachtsglocken. Viele Familienmitglieder sind damit aufgewachsen. Drei Generationen lang. Aber die herrlichen Berge gibt es für immer und die Bäche rumpeln noch. Also ist das, was wir lieben, immer noch da und wird es immer sein.
Ingvild Richardsen: Gibt es kuriose Erlebnisse und Erzählungen, die in der Familie über die Niederländer und ihr Jod-Schwefelbad in Bayern kursieren?
Allard Everts: Ich habe das Jod-Schwefelbad und die Bayern natürlich ein Leben lang erlebt. Damit sind für mich viele Erinnerungen verbunden. Jungbrunnen, Deutsch plaudern, Öl, Gas und Wasser, das Tegernseer Tal, über den Brenner zur Familie in Meran, das Rathaus, die Beziehung zu den alten Bürgermeistern und den Politikern, meine enge Zusammenarbeit mit unserem Techniker Lenz Biller. Aber auch das Betreuen der historischen Archive von Stoop und des Jod-Schwefelbades. Die Zusammenarbeit mit meinem Onkel Govert de Clercq, der mehrere Jahre Direktor war und mit einem Wiesseeerin verheiratet war. All diese Erfahrungen sind Teil meiner DNA, aber sicherlich nicht die aller meiner Familienmitglieder. Ich habe mich mit dem Bad beschäftigt ab 1973 als es einen Gasausbruch aus der König-Ludwig-Quelle gab. Als Bergbauingenieur hatte ich natürlich eine Affinität zu den Aktivitäten in Wiessee. Ein Onkel, der damals Vorsitzender des Beirats war, stellte mich als "Experten" ein. Es nützte ein Familienmitglied zu haben der mit dieser Herausforderung ziemlich gut umgehen konnte. Besonders als damals dann auch ein neuer Brunnen gebohrt werden musste. Die Adrianus Quelle. 1978 wurde ich dann offiziell Mitglied des Beirates bis 2011.
Ingvild Richardsen: Tatsächlich ist die Bäderkultur ja typisch deutsch, kein holländisches Phänomen. Deutschland hat traditionell eine reiche Bäderkultur, die Niederlande nicht. War das nicht seltsam für die Deutschen, für die Bayern, dass in Bad Wiessee nun ausgerechnet Holländer ein Bad aufbauten und führten?
Allard Everts: Es ist natürlich nur ein Zufall, dass unter den Händen von Adriaan Stoop ein Kurort geschaffen wurde. Unsere Bemühungen, niederländische Investoren für das Bad zu interessieren, waren vergebens. Es gab Wiesseer die glaubten, das Dorf habe Anspruch auf das Wasser aus dem Boden. Aber ich glaube, dass das Bad von uns professionell geführt wurde und es sorgte für Arbeit, Einkommen. Und wir haben uns nie als "Holländische“ Eigentümer profiliert. Das holländische trat nur während der Jubiläen in den Vordergrund: Frau Antje und Matjes Hering! Leben und leben lassen gilt auch hier: Die Kurgäste waren froh mit dem Bad, und wir auch.
Ingvild Richardsen: Hast Du selbst häufig im Jod-Schwefelbad gebadet und die positive Wirkungen erfahren?
Allard Everts: Nicht sehr oft und daher viel zu wenig, um den Effekt zu bemerken. Ein Wannenbad hat mich immer wunderbar schläfrig gemacht. Und diese Entspannung ist auch ein wesentlicher Bestandteil der Heilung. Als Kinder mussten wir alle mal das Wasser ausprobieren. Wirklich nicht lecker, aber aufregend. Später war das wegen der Ölkomponenten nicht mehr erlaubt.
Ingvild Richardsen: In den überlieferten literarischen Zeugnissen bin ich immer wieder auf den Namen „Jungbrunnen“ für das Jod-Schwefelbad gestossen.
Allard Everts: Dieser Name stammt von dem berühmten Gemälde von Lucas Cranach dem Alten. Ich glaube, dass Reinjan Mulder in seinem Buch Schwefelwasser darüber schreibt. Aber neben der Haustür von Haus Jungbrunnen, unserem früherem Familienhaus in Bad Wiessee, befand sich ein schönes niederländisches Gedicht, das meiner Meinung nach alles zusammenfasst was uns die Wasserquelle als Familie gegeben hat: Keine ewige Jugend, sondern eine einzigartige 100-jährige (und mehr) tiefe Verbindung zwischen den Familienzweigen. Das Haus Jungbrunnen war ein Ausdruck davon. Es passte zu jener Zeit, aber nicht mehr zu der Gegenwart. Wir müssen uns jetzt mit einer Website, einer E-Mail und einem gelegentlichen Wiedersehen oder speziellen Projekt begnügen.
Ingvild Richardsen: In den letzten 100 Jahren sind auch verschiedenste Literatur- und Kunstwerke entstanden, in denen das Jod-Schwefelbad im Mittelpunkt steht: Theaterstücke, Märchen, Gedichte, Illustrationen. Darunter auch ein Theaterstück von 1926 auf Niederländisch von Mitgliedern deiner Familie geschrieben. Es trägt den Titel: Der Wonderbron. (Der Wunderbrunnen) und wurde 1926 durch eure eigene Familie im Haus von einem der Stoop-Kinder in Bloemendaal aufgeführt. Um was geht es in diesem Theaterstück?
Allard Everts: Es handelt von der Entdeckung der Jod-Schwefelquelle in Bad Wiessee. Führt Diskussionen vor zwischen Siegmund, Quirinius, Sanktjohanser (der damalige Bürgermeister) usw. Dann auch solche zwischen dem Berggeist, der das Öl nicht abgeben will, und dem Brunnengeist, der den Menschen dienen will. Und dann folgt noch eine lustige Geschichte über König Ferdinand von Bulgarien, der die ewige Jugend sucht, und Lis'l, die lokale Schönheit, die sich bereits wie die Königin von Bulgarien fühlt. In der Zwischenzeit wird Stoop zum Ehrenbürger ernannt und es melden sich gierige deutsche Investoren, die das Bad für Goldmarken kaufen wollen. Aber Stoop bleibt seiner Mission und bleibt Bad Wiessee treu.
Das Stück ist teilweise in niederländischer, teilweise in deutscher und teilweise in bayerischer Sprache verfasst. Und das Setting wurde sicher von der Tradition des Tegernseer Theaters beeinflusst. Es wurde zu Ehren des 70. Geburtstages von Adriaan Stoop aufgeführt.
(Für viele Sinterklaas-Feiern wurden sicherlich viele Gedichte und Überraschungen produziert mit Bad Wiessee oder Bayern im Gedanken). Aber das ist alles nur Amateurreim. Nichts Literarisches!
Ingvild Richardsen: Was ich mich gefragt habe, als ich die Geschichte von Bad Wiessee und dem Jod-Schwefelbad studiert habe: Warum hat Bad Wiessee eigentlich keinen Partnerort in den Niederlanden? Ist das in all den Jahren als es dort das niederländische Jod-Schwefelbad gab, nie zur Sprache gekommen? Stattdessen habe ich gesehen, dass Bad Wiessee einen französischen Partnerort hat. Gibt es dafür eine Erklärung?
Allard Everts: Als Familie waren wir nie direkt an dem beteiligt, was im Dorf geschah. Nur in den letzten 15 Jahren gab es häufigen Kontakt mit den Bürgermeistern. Zuerst mit Herbert Fischhaber und später mit Peter Höss. Wir waren daher nicht an der Wahl des Partnerorts beteiligt. Und eine besondere Beziehung zwischen zum Beispiel Bloemendaal und Bad Wiessee interessierte niemand.
Ingvild Richardsen: Allard, du bist selbst auch Autor. 2018 hast Du mit einem Kollegen ein Buch veröffentlicht, das einen wunderbaren Titel trägt: Dansen met Dilemma´s. Auf Deutsch: Tanzen mit Dilemmas. Auch eine Website gibt es dazu. Um was geht es in dem Buch? Abgesehen von deiner Tätigkeit als Geschäftsführer von Bad Wiessee warst Du ja auch als Unternehmensberater international unterwegs, hast weltweit viele Firmen beraten. Stellt das Buch den Ertrag internationaler interkultureller Erfahrungen dar? Spielen da auch deine Erfahrungen und Erlebnisse als Niederländer und Geschäftsführer des Jod-Schwefelbades Bad Wiessee in Bayerneine Rolle?
Allard Everts: Das sind viele Fragen ... In dem Buch geht es darum, wie man mit einem Dilemma umgeht. Ob ein persönliches, geschäftliches oder politisches Dilemma, dass spielt keine Rolle. Der Analyseprozess ist immer der gleiche. Aber was wirklich zählt, ist unsere Philosophie, dass Menschen, wenn sie zwei widersprüchliche Dinge wollen, nicht immer eine der beiden wählen müssen, sondern versuchen sollten, eine Win-Win-Lösung zu finden. Das heißt, man muss nach gegenseitigem Gewinn streben. Das unterscheidet sich davon, wie sonst oft ein Dilemma dargestellt wird: nämlich als eine Situation, in der man zwischen zwei Dingen wählen muss. Unser Buch ist daher ein Aufruf, konstruktiv mit Dilemmata umzugehen. Und das ist ein wichtiger Reiz, denn das Leben ist voller Spannungen. Und das lässt nicht nach. Wir beschreiben den Kern des Dilemma-Denkens und präsentieren einen Prozess, Dilemma-to-Dialogue (D2D). Dieser Begriff sagt alles: Verwandele das Dilemma in einen Dialog zwischen den Stakeholdern. Dies kann sehr effizient durchgeführt werden, ist jedoch nicht einfach, da es sich um Werte, Interessen, Identität und Widerstand gegen Veränderungen handelt. Wir wenden unseren Prozess dann auf eine Reihe von Beispieldilemmata an. Dann folgt welche Fähigkeiten wichtig sind um mit Dilemmata richtig umgehen zu können. Abschliessend dann noch ein sehr umfassender Überblick, eine Art Enzyklopädie, über die wichtigsten Dilemmata, denen man in sein Leben, Berufsarbeit oder Organisationen begegnen kann.
Das Dilemma-Denken ist ein wesentlicher Bestandteil eines Prozesses, den ich vor 20 Jahre entwickelt habe, um die Zusammenarbeit innerhalb von Organisationen zu verbessern. Der 3Q- Ansatz. Das sind drei essentielle „Questions“ an die Führung einer Organisation: Was verbindet euch - Was trennt euch und was machst ihr damit? Die Antwort auf die letzte Frage: Aufbauen was verbindet (Übersetzung von Grundwerten in tägliches Verhalten), Lernen umzugehen mit dem was uns trennt (die Dilemmata erkennen und angehen) und an der Selbstführung arbeiten (um die ersten zwei Dinge professionell und mit Integrität zu machen). Meine Berufsarbeit beschränkte sich hauptsächlich auf das "Bauen auf das was verbindet", weil "der Umgang mit dem, was einen trennt" sich äußerst schwierig erwies. Weil es international keinen guten Prozess gab. Dass habe ich erst mit einem früheren Kollegen, jetzt ein richtiger Freund, nach meiner Pension entwickeln können. Und so entstand dann unser dickes und schönes Buch „Dansen met Dilemma’s – Op weg naar wederzijdse winst“. Es ist ein Geschenk an die Menschen, die unsere komplexe Gesellschaft, in der wir leben, führen müssen.
Ingvild Richardsen: „Tanzen mit Dilemmas“. Wie meinst du das? Vielleicht kannst Du abschließend kurz erklären, wie man mit Dilemmas umgeht? Gibt es da ein Rezept?
Allard Everts: Na dann: Ein Zirkel mit vier Quadranten.
- Identifiziere das Dilemma (mache das selbst, aber lass dich von einem vertrauenswürdigen, aber kritischen Freund helfen)
- Definiere und integriere das Dilemma (richtig formulieren, bestimmen wer der "Eigentümer" des Dilemmas ist (Sie selbst!), wer die Stakeholder sind, das Dilemma strecken und den Weg zur Win-Win-Situation finden)
- Implementiere den Weg zu Win-Win, dabeibleiben und Ergebnisse erzielen. Wir reden übrigens nicht über Win-Win aber über ‚Rekonziliation‘.
- Reflextiere über das Prozess (bewerten Sie, was Sie getan haben, was das Ergebnis ist und was Sie daraus gelernt haben)
Leider ist das Buch bisher nur auf Niederländisch erschienen. Wir haben uns entschieden, nicht auf Englisch zu schreiben (was in den Niederlanden üblich gewesen wäre), da die Angelsachsen leider oft schwarz-weiß Denker sind, die gerne Macht benutzen (denken Sie an Trump). Macht macht Reconciliation unmöglich. Die Deutschen verstehen diese Philosophie. Die Präferenz für das Rheinland-Modell wird von den Niederlanden mit Deutschland geteilt.
Ingvild Richardsen: Hat das funktioniert die Zusammenarbeit zwischen den Niederländern und den Bayern? Habt ihr als Niederländer etwas von den Bayern gelernt? Oder die Bayern etwas von euch? Wie siehst Du die Beziehungen zwischen Holländern und Deutschen? Welche Gemeinsamkeiten gibt es? Was trennt sie? Was können beide voneinander lernen?
Allard Everts: Was den Beirat betrifft war die Zusammenarbeit immer gut. Wir hatten aber wenig direkten Kontakt zu "den Bayern". Die Zusammenarbeit mit den Direktoren (Nijland und später Van den Hanenberg) war wahrscheinlich meistens auch positiv.
Ich habe nicht gelernt Bier zu trinken, aber viele meiner Cousins doch. Die Blasmusik liegt uns allen sehr am Herzen.
Ich glaube nicht, dass der Bayer etwas von uns gelernt hat. Wir sind eine große Familie, aber wir haben uns nicht profiliert (wie gesagt). Ich habe viel aus dem Verhandlungsprozess mit den deutschen Kandidaten für den anstehenden Verkauf des Jod-Schwefelbads Wiessee gelernt und sicherlich von Bürgermeister Höss und einigen sehr sympathischen Politikerkollegen. Aber wir haben uns in Bezug auf die Ziele nicht so sehr von ihnen unterschieden, und deshalb war es nicht wirklich schwierig, miteinander umzugehen und zu verhandeln. Und schon gar nicht mit Herrn Höss, denn bei unserem ersten Treffen sagte er zu mir: „Herr Everts, wir sollten ein Win-Win finden“. Wir sprachen also die gleiche Sprache!
Deutsche und Holländer sind kulturell sehr unterschiedlich. Es ist viel darüber nachgedacht und geschrieben worden. Beratungen dazu waren Teil meiner letzten Berufsarbeit. Denn dabei handelte sich auch darum "interkulturelles Bewusstsein" zu bilden. Es wird gewöhnlich gesagt, dass Deutschland für die Niederlande sehr wichtig ist und die Niederlande für Deutschland sehr unwichtig. Wie dem auch sei, wir sind eng miteinander verbunden und trotz einer sehr schmerzhaften und immer noch bewussten Konfrontation (ich bin Jahrgang 1964), sind wir im positiven Sinne zueinander verurteilt. Wir können viel voneinander lernen.
Oh ja: und Bayern ist nicht Deutschland! Aber das ist eine andere Geschichte.